Der Fluch der „ersten Zahl“

Wie oft ist es schon passiert, dass eine Kostenschätzung nicht mit den wirklichen Kosten übereinstimmt, sondern diese sogar übermäßig weit übersteigt… Woran liegt so etwas, und wie kann es in den Griff bekommen werden?

Die Geschichte beginnt mit einem Anruf: Der Bauherr, ein Mitglied der Geschäftsleitung eines Industrieunternehmens, ruft beim Architekten an und beschreibt ihm seine Bauabsichten: Ein Produktionsgebäude für Maschinenbau, eine Halle ca. 10.000 m², ein Lager 5.000 m², Büros für 50 Angestellte und ein Sozialtrakt für alle 250 Mitarbeiter mit Kantine. Wo? Draußen im Industriegebiet, sozusagen auf der grünen Wiese. Ein einfacher Fall. Hat der Architekt Interesse, Zeit und Kapazität? Dann sollte man sich doch in den nächsten Tagen treffen, um weitere Einzelheiten zu besprechen.

Es folgen eine Besichtigung des Büros sehr repräsentativ und eine kurze Rundreise zu verschiedenen in der letzten Zeit gebauten Objekten. Bei Wein und gutem Essen kommt man sich näher – näher auch der Frage nach den Kosten. Der Architekt winkt ab, so auf die Schnelle mag er keine Zahl in die Luft setzen. Man sollte doch erst den Vorentwurf abwarten.

Doch der Bauherr besteht aus mehreren Geschäftsführern, und einer befasst sich nur mit den Finanzen des Unternehmens. Der Haushalt für die kommenden Jahre muss in Kürze vom Vorstand verabschiedet werden. Dazu ist der Mittelbedarf auch für unser Industrieprojekt anzumelden.

Ein erneuter Anruf beim Architekten. Er hat zwar noch keinen Auftrag, mit der Planung soll er nach Verabschiedung des Haushalts beginnen, aber man braucht doch bitte eine „erste Zahl“. Die Anforderungen an die Genauigkeit seien nicht sehr hoch. Der Architekt lässt sich von seinen Projektleitern m²- und m³-Werte seiner letzten Bauten geben. Mit Fax geht zwei Stunden später eine Kostenschätzung mit folgendem Inhalt an den bauwilligen Technik-Geschäftsführer:

Baukosten mit Außenanlagen ohne Nebenkosten = 26 Mio. Euro.

Das ist ein Wort! Noch ist nichts geplant und schon gar nicht gebaut, und schon wissen wir, was es kostet. Schwarz auf weiß, und ein hochinteressiertes und entscheidungsfähiges Gremium hat es mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen. Der Vorstand zeigt sich guten Mutes für die Zukunft und sagt ja zur Investition.

Die Planung beginnt. Vorentwurf, Entwurf werden in kurzer Zeit durchgeführt, gilt es doch, einen schnellen Baubeginn anzusteuern. Die Produktion wartet dringend auf die Erweiterung ihrer Kapazitäten, um auf den schnell wachsenden Markt reagieren zu können.

Die Generalunternehmer-Ausschreibung wird parallel zum Entwurf erstellt. Der Bauherr muss vor Versand der Ausschreibung das Projekt offiziell vom Vorstand verabschieden lassen. Also wird eine Kostenberechnung kurzfristig notwendig. Da das GU-LV bereits vorliegt, kann es ausgepreist werden, um eine zuverlässige Zahl zu ermitteln. Doch nun kommt Sand ins Getriebe. Die neuen Gesamtkosten betragen 39 Mio. Euro. Hektische Tage und Stunden. Wie soll man sich verhalten?

Das Problem dem Bauherrn weitergeben oder versuchen, durch Überarbeitung des Projekts die Kosten zu reduzieren? Wie auch immer, es muss erst einmal versucht werden, die Unterschiede zwischen der ersten Zahl und dem Kostenanschlag zu erklären. Die Analyse zeigt vier Hauptfaktoren:

1. Andere Randbedingungen: Der Baugrund ist schlecht, Austausch des Bodens: +1,2 Mio.
Die Technikzentrale muss gleichzeitig zusätzliche Anlagen für den bestehenden Altbau aufnehmen: +2,3 Mio.
2. Größer: Die Produktionshalle ist 2.000 m² größer geworden: +2,8 Mio.
3. Schöner: An das Erscheinungsbild werden höhere Anforderungen gestellt, um den High-Tech-Charakter und die Innovationskraft zum Ausdruck zu bringen. Fassaden- und Dachkosten erhöhen sich um: +3,3 Mio.
4. Besser: Der Maschinenbau ist im Wandel. Der Anteil der Elektronik wächst schnell. Ein Teil der Halle erhält Elektronik-Arbeitsplätze, d. h. Bereiche mit hohem Installationsgrad und entsprechendem baulichem Aufwand: +3,4 Mio.

Die Situation ist für den Architekten klar. Einsparungen beim Entwurf können die Differenz zum ursprünglichen Budget nicht auffangen. Der Bauherr muss mit einbezogen werden. Der größte Teil der Mehrkosten beruht auf zusätzlichen Anforderungen. Der Bauherr ist verunsichert. Mit der Investsumme wird das Projekt den Segen des Vorstandes nicht finden. Er sieht schon eine völlig neue Situation entstehen, die Diskussion vor einem Jahr über eine Verlagerung der Produktion ins Ausland wird wieder aktuell – das Projekt ist gefährdet. Es muss schnell und zielgerichtet gehandelt werden, um rettend eingreifen zu können.

Was ist schiefgelaufen? Versäumnisse des Architekten oder des Bauherrn? Im Zweifelsfall muss man die Vertragsgrundlage heranziehen, d. h. in diesem Fall die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI). Diese fordert vom Planer nach dem Vorentwurf Kostenschätzung, nach dem Entwurf eine Kostenberechnung und nach dem Erstellen der LVs einen Kostenanschlag. Zur Genauigkeit oder zur Methode dieser Kostenermittlungen steht keine konkrete Angabe in der HOAI, im Unterschied beispielsweise zu den Schweizer Kollegen. Dort werden die Abweichungstoleranzen in der Honorarordnung begrenzt (SIA 102):

  • Kostenschätzung ± 15%
  • Kostenvoranschlag ± 10%
  • Kosten(vor)anschlag ± 10%

Einen Hinweis gibt die HOAI: Sie verweist auf die DIN 276. Diese besteht aus einer Kostengliederung und Formblättern sowie Definitionen für die einzelnen Kostenermittlungen. Hier wird erklärt, dass die Kostenschätzung „zur überschlägigen Ermittlung der Gesamtkosten“, die Kostenberechnung „zur Ermittlung der angenäherten Gesamtkosten“ und erst der Kostenanschlag „zur genauen Ermittlung der tatsächlich zu erwartenden Gesamtkosten“ dient. In unserem Beispiel wurde also nach den einschlägigen Normen verfahren. Also muss der Fehler anderswo liegen.

Zu Beginn der Planung war nur sehr wenig über das Projekt bekannt. Nicht nur der Architekt, auch der Bauherr hat sich wesentliche Projekt-Grundlagen erst in der engeren Zusammenarbeit mit dem Planer entwickelt.

Wie entwickelt sich denn die Menge der Informationen im Laufe eines Projekts? Indikatoren für die Informationsmenge sind

a) die Anzahl der Pläne und Details in den einzelnen Projektphasen,
b) die Menge Papier, die beschrieben werden muss mit Bau- und Anlagenbeschreibungen, Leistungsverzeichnissen etc. (ohne Jour-fixe-Protokolle und Briefverkehr),
c) der Planungs- und Bauleitungsaufwand im Büro, messbar an der Vergütung, die der Architekt in den einzelnen Phasen erhält.

Für unser Industrieprojekt ergibt sich also ein Mengengerüst.
Besteht nun ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Papiermenge als Informationsmenge und der Kostensicherheit? Betrachten Sie hierzu bitte die zweite Grafik (nur im PDF zu sehen).

Die hier dargestellte Informationsmenge hat den Zweck, Ausführungsanweisungen an die bauausführenden Firmen zu geben – eine sehr breite und detaillierte Information. Dies ist jedoch nicht gleichzusetzen mit den wesentlichen das Projekt bestimmenden Faktoren. Die Bauaufgabe und die Baukosten werden durch acht Einflussgrößen definiert. Nicht alle diese Faktoren sind in gleicher Weise beeinflussbar. Direkt steuerbar durch Bauherr und Planer sind

  1. Die Größe: Mehr muss teurer werden! Häufig letztes Mittel von Kosteneinsparungen: die Etappenbauweise = erst mal weniger bauen,
  2. Die Qualität/der Standard: Zum Beispiel Fassaden zwischen 300 Euro/m² und 1.500 Euro/m² zeigen eine große Beeinflussungsmöglichkeit auf. Diese setzt sich fort in allen funktionalen Elementen des Projekts,
  3. Die Gebäudeform: Flach- oder Hochbau, stark oder wenig gegliederte Baukörper beeinflussen primär Fassaden- und Dachkosten,
  4. Der Installationsgrad: Klimatisieren oder reine Luft durchs Fenster ist häufig die Frage; starken Einfluss haben heute auch Informationssysteme und ihre Folgewirkungen auf den baulichen Ausbau wie Doppelböden und abgehängte Decken.

Weniger beeinflussbar sind

  1. Das Grundstück und die relevanten Randbedingungen aus der Lage, Bauordnungen und den Auflagen,
  2. Die Funktion beziehungsweise die Nutzungsart,
  3. Die Zeit im Sinne von Planungszeitraum und Bauzeit. Eine starke Verkürzung kann zu Mehrkosten führen, da nicht immer die gewünschte Planungstiefe rechtzeitig erreicht wird. Es müssen Kompromisse zwischen Zeit- und Kostenpriorität gemacht werden.

In den Händen des Planers liegt die Organisation beziehungsweise die Effizienz der Kostenplanung.
Bei den Projekten, bei denen konsequent Kostenmanagement von Anfang an eingesetzt wird, ist ein klarer Trend zur Senkung der Baukosten bemerkbar (Bild 4). Wirkungsvolle Kostenplanung erfordert ein umfassendes Instrumentarium, bestehend aus

  • methodischen Grundlagen für Kostenermittlung und Kostenverfolgung, und
  • einer Kostenstruktur, die speziell für die ersten konzeptionellen Planungsschritte geeignet ist. Die Einführung der DIN 276 mit der Gliederung des Bauwerks in funktionale Elemente hat hier eine wichtige Grundlage geschaffen. Die Schweiz hat gleichgezogen mit der sogenannten Baukostenanalyse nach Gebäudeelementen.

Wie hätte unser Industrieprojekt besser begonnen, wie die Kostensicherheit von Anfang an verbessert werden können? Betrachten Sie dazu Bild 5. Die Informationsmenge und die Informationsqualität muss am Anfang deutlich verbessert werden. Der Generalübernehmer oder Totalübernehmer, wie er in der Schweiz genannt wird, muss aus eigenwirtschaftlichen Gründen so handeln. Alles genau beschreiben und staunen, wieviel Informationen, seien es nur Annahmen, früh zusammen kommen.

Folgende Maßnahmen sichern einen besseren Projektstart:

  1. Intensives Brainstorming zur Aufgabenstellung und zu den Prioritäten des Projekts vor Beginn der Entwurfsarbeit. Nutzung der Technik des sog. „Project Brief“. Beantworten aller 10 PM-Fragen zum Project Brief (Outcomes, Objectives, Deliverables, Scope, Approach, Exclusions, Constraints, Business Case, Quality Expectations, Risk Assessment). Das englische PM macht vor, wie man ein Projekt startet. Wer diese Fragen konsequent beantwortet hat, stellt Planungs- und Kostensicherheit dar. Wenn der Bauherr mit einbezogen wird ins Brainstorming und den Project Brief, entsteht parallel ein Konsens, der weit trägt.
  2. Weitgehende Beschreibung der Aufgabenstellung und aller Projekt- und Kostenfaktoren, konsequente Projektbeschreibung nach DIN 276 dreistellig, Definition aller Randbedingungen, Nutzungsfaktoren, Gestaltungsabsichten, Flexibilitätskriterien usw.
  3. Detaillierte Kostenschätzung mit Leitpositionen und Mengengerüst zum Vorentwurf nach DIN 276 dreistellig mit einer Genauigkeit von ± 10 Prozent.
  4. Kostenberechnung zum Entwurf mit einer Genauigkeit von ± 5 Prozent nach Berechnungselementen zur definitiven Budget-Absicherung.

Alle Beteiligten erhalten dadurch frühzeitig einen hohen Kenntnisstand zum Projekt, so dass keine so exzessiven und kostenintensiven Abweichungen mehr vorkommen können. Ideale Randbedingungen also für reibungsfreie, kreative Tage und ruhige Nächte…

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